„ ... Denn: Es stehen hier an der Wand ein Dutzend große Zinkplatten – sehr große – leere, aber vorbereitete Zinkplatten. Seit Wochen geht mein Morgenspaziergang vor diesen Platten hin und her. Und vor meinem inneren Auge bilden sich die eindrucksvollsten Bilder: Bäume! Baumstämme – Voluminöses, dunkel, geborsten, zersplittert. Verwittertes und bemoostes Holz. Äste – gebogen, verschlungen, sich spreizend. Bäume – mal statisch massig – mal dramatische Arabesken. Und alles in eine schwarze Tiefe gestellt, von Blitzlichtern aufgebrochen. Quasi Piranesis „Die Kerker“ – nur eben Bäume. Bald ist es soweit und alle diese Bilder werden in meinem Hirn explodieren: dann fange ich an zu stricheln und zu ÄTZEN – die tiefsten Tiefen und Dunkelheiten werde ich ätzen und die Salpeterdämpfe werden sich in meine Lunge drängen und die Nieren vergiften und mein auf 200 Jahre angelegtes Leben wieder mal um 10 Jahre verkürzen. Und ich werde von Platte zu Platte glücklicher werden. Das IST MEIN „KRIEG“. Und wenn ich den gewonnen habe - wenn dann eines Tages hier ein Dutzend Siege an der Wand hängen, dann lege ich eine Musik auf:
Konzert für Klavier und Orchester
Nr. 21 C-Dur KV 467
Zweiter Satz
Andante
und setz´ ich mich dann in den Sessel vor meine Bäume und werde weinen – weil ich weinen WILL. Und in solchen Momenten möchte ich nicht mal mit den Göttern tauschen. Und die Menschen sind mir egal – „Kunst“ ist mir egal, alles ist aufgelöst bis auf die Wand vor mir.
Ich werde meine Kräfte nun versammeln und meine Tage voll Bilder stopfen. Ich werde jetzt alt und in eine ernsthafte und glückliche Zeit kommen! DAS ist es!“
„Die Wahrheit von Literatur und Kunst war stets nur (wenn überhaupt) zugelassen als die einer höheren Ordnung, welche die Ordnung des Geschäfts nicht stören sollte und auch nicht störte. Was sich in der gegenwärtigen Periode geändert hat, ist die Differenz zwischen den beiden Ordnungen und ihren Wahrheiten. Die absorbierende Macht der Gesellschaft höhlt die künstlerische Dimension aus, indem sie sich ihre antagonistischen Inhalte angleicht. Im Bereich der Kultur manifestiert sich der neue Totalitarismus gerade in einem harmonisierenden Pluralismus, worin die einander widersprechendsten Werke und Wahrheiten friedlich nebeneinander koexistieren.
Vor dieser kulturellen Versöhnung waren Literatur und Kunst wesentlich Entfremdung, hielten den Widerspruch aus und bewahrten ihn – das unglückliche Bewußtsein der gespaltenen Welt, der vereitelten Möglichkeiten, der unerfüllten Hoffnungen, der verratenen Versprechen. Sie waren eine rationale, eine Kraft der Erkenntnis, die eine Dimension von Mensch und Natur bloßlegte, die in der Wirklichkeit unterdrückt und verstoßen wurde. Ihre Wahrheit bestand im beschworenen Schein, im Bestehen darauf, eine Welt zu schaffen, worin der Schrecken des Lebens wachgerufen und suspendiert wurde – gemeistert durch Anerkennung. (...)“ (S. 82, 8. Aufl. Luchterhand 1976)
„Kunst gerät in die Schuld des Lebendigen, nicht nur, weil sie durch ihre Distanz die eigene Schuld des Lebendigen gewähren läßt, sondern mehr noch, weil sie Schnitte durchs Lebendige legt, um ihm zur Sprache zu helfen, es verstümmelt.“ (S. 217, 15. Aufl. Suhrkamp 2000)
„Ihre Stellung zur Empirie bezieht Kunst gerade durch ihre Distanz von jener; in ihr sind die Widersprüche unmittelbar und weisen bloß auseinander; ihre Vermittlung, an sich in der Empirie enthalten, wird zum Für sich des Bewußtseins erst durch den Akt des Zurücktretens, den die Kunst vollzieht. Darin ist er einer von Erkenntnis.“ (S. 218, 15. Aufl. Suhrkamp 2000)
„Kunstwerke gehören nicht zur Ausstattung der von Menschen unberührten Welt. Sie bilden einen Teil der Ausstattung unserer Welt – der Welt, in der wir in vielfältiger Weise zu Verständnissen und Selbstverständnissen kommen. Im Rahmen dieser Welt stellt Kunst eine besondere, an sinnlich-materiale Gegenstände und Geschehnisse gebundene Form der Selbstverständigung dar.
Die Besonderheit der ästhetischen Selbstverständigung besteht allerdings auch darin, dass in ihr eigentümlich spannungsreiche Verständnisse zustande kommen. Das spannungsreiche Geschehen ästhetischer Selbstverständigung umfasst in Frage stellende, bestätigende und verändernde Momente des Verstehens. Kunstwerke sind als Zeichen zu begreifen, hinsichtlich deren der Prozess des Verstehens in besonderer Weise krisenhaft ist.“ (S. 295, Reclam 2005)
„Kunst gibt es nur dann, wenn Werke mit Blick auf unsere Verständnisse von und in der Welt zu sprechen beginnen. Eine Opern-Aufführung kann uns in diesem Sinn genauso ansprechen wie eine Lektüre dadaistischer Lyrik. Musik, Tanz und viele andere ästhetische Formen können alle in unsere Verständnisse eingreifen. Ohne einen solchen Eingriff bleibt Kunst stumm. Für den distanzierten Beobachter gibt es keine Kunst.“ (S. 298, Reclam 2005)
Qualitätsvolles Denken: Warum aus Kunst so leicht Kitsch wird
Das wäre die Idealvorstellung: Kunst zunächst nur zu sehen, nur zu spüren. Doch für das reine Sehen ist der Mensch nicht gemacht. Jeder Sinneseindruck löst gleich Erinnerungen aus, weckt Assoziationen, fordert Vergleiche. Der Verstand verlangt sein Recht, und so wird das Fühlen durchdrungen vom Denken und das Denken beeinflusst vom Wollen. Der Betrachter möchte begreifen, er will das Gesehene auf den Begriff bringen: Wie ist es gemacht, wie ist es gemeint? Durch alle Museen schwirrt: Was soll es sein?
Die Frage nach der Bedeutung zeichnet die Kunst aus. Niemand käme auf die Idee, sich angesichts eines Sonnenuntergangs zu erkundigen, was er wohl bedeuten könnte – Natur ist, wie sie ist. Wenn hingegen ein Künstler wie Olafur Eliasson in der Turbinenhalle der Tate Modern in London eine gewaltige Kunstsonne untergehen lässt, weckt das gleich viele Vermutungen über den Sinn des Ganzen. Manchmal kann diese Frage nach der Bedeutung so übermächtig werden, dass die Kunst hinter ihr zu verschwinden droht, weil das Deuten wichtiger ist als das Sehen. Umgekehrt allerdings, wenn es beim reinen Kunstgefühl bliebe, wäre auch niemand glücklich. Das eine kann nicht sein ohne das andere: um zu wissen, worüber man redet, braucht es das Wahrnehmen; um das Wahrgenommene zu erschließen, braucht es das Nachdenken. „Das gelungene Werk führt die Erfahrenden nicht aus der Welt ihrer Erfahrung heraus oder setzt sie von dieser frei: es gibt Ihnen die Freiheit, sich zu ihrer Erfahrung erfahrend zu verhalten“, so beschreibt der Philosoph Martin Seel die Dialektik der Kunst.
Der Betrachter hat es also nicht unbedingt einfach: Er soll sich frei von allen Einflüsterungen seines Verstandes der Kunst widmen, soll in Sie eintauchen; zugleich soll er abheben und das eben noch Erblickte reflektieren. Kurz, er soll in seiner Wahrnehmung die Wahrnehmbarkeit der Welt wahrnehmen. Das mag sich verschraubt anhören, doch jede andere, unbedachte Form der Kunstbegegnung führt schnurstracks in den Kitsch.
Kitsch bedeutet, die Persönlichkeit der Kunst zu spalten: sie ist dann nur noch das schöne Gefühl oder nur noch der kluge Gedanke. Wenn alles einfach und unmittelbar sein soll, unberührter Genuss, dann wird es rasch schwülstig. „Kitsch ist mechanisch und arbeitet mit festen Formeln. ... Kitsch gibt vor, von seinen Käufern nichts außer ihrem Geld zu verlangen – nicht einmal ihre Zeit“, erklärt der Kunstkritiker Clement Greenberg. Wenn sich alle Fragen erübrigen, wenn die Kunst aufgeht in Wirkung und Bedeutungsprahlerei, dann kann es mit der Qualität nicht weit her sein.“
(S. 187 f., 2. Aufl. Fischer 2011)
https://www.uni-kassel.de/fb02/fileadmin/datas/fb02/Institut_für_Germanistik/Dateien/Kunstdiskurs_Gardt_in_SB_Kunstkommunikation.pdf
„Wie immunisiert man den Diskurs [der Kunstkritik, A.G.] gegen Kritik? Noemi Smolik erzählt folgende aufschlussreiche Anekdote. In der Redaktion einer Kunstzeitschrift mitarbeitend, bat Sie [sic!] ihre Kollegen, ihr den Sinn einiger kryptischer Formulierungen zu erklären. Die Reaktion war, man ahnt es bereits, ebenso allseitiges wie unmutiges Achselzucken: „Meinen Einwand, warum wir Sätze, die wir selbst nicht verstehen, überhaupt in Druck geben, schien keiner der Mitarbeiter auch nur für nachdenkenswert zu halten. Im Gegenteil.
Diese unverständlichen Sätze schienen etwas Unantastbares an sich zu haben. An ihrer Richtigkeit zu zweifeln, nur weil sie unverständlich waren, schien ein peinliches Vergehen zu sein.“ Anschaulicher lässt sich der zentrale Ausschlussmechanismus des Kunstdiskurses kaum vorführen: es [sic!] ist nicht etwa das Argument, es ist die Beschämung. Nichts schützt ein Reich vermeintlich absoluter Werte effizienter vor skeptischen Zumutungen. Keine andere Strategie gestattet es, kritische Einwände derart kategorisch abzuweisen. Die Beschämung schüchtert den Beschämten ein. Die Beschämung beraubt ihn der Rede. Denn wer sich als Beschämter rechtfertigt, der macht die Peinlichkeit noch unerträglicher. Auf die Beschämung reagiert man angemessen nur mit Schweigen. Das Schweigen aber bestätigt den Beschämenden und gibt ihm Recht, ohne dass er sich einer Auseinandersetzung überhaupt hätte stellen müssen.“
„Während ein Gemälde oder eine Prosaschilderung nie etwas anderes sein kann als eine eng begrenzte Interpretation, kann man eine Fotografie als engbezogenes Spiegelbild begreifen. Aber trotz der mutmaßlichen Aufrichtigkeit, die allen Fotografien Autorität, Bedeutung und Reiz verleiht, bildet die Arbeit des Fotografen ihrem Wesen nach keine Ausnahme in dem meist etwas anrüchigen Gewerbe, das zwischen Kunst und Wahrheit angesiedelt ist. Selbst wenn die Fotografen es als ihre Hauptaufgabe betrachten, die Realität widerzuspiegeln, bleiben sie dennoch den stummen Befehlen des Geschmacks und des Gewissens ausgesetzt. Die hochbegabten Mitglieder des Ende der dreißiger Jahre durchgeführten fotografischen Projekts der Farm Security Administration(darunter Walker Evans, Dorothea Lange, Ben Shahn, Russell Lee) machten Dutzende von Portraitaufnahmen eines Kleinpächters, bevor sie überzeugt waren, genau das getroffen zu haben, was sie auf dem Film festhalten wollten – jenen Gesichtsausdruck, der ihren eigenen Vorstellungen von Armut, Würde und Ausbeutung, von Licht, Struktur und geometrischem Maß entsprach. Bei der Entscheidung, wie ein Bild aussehen sollte, bei der Bevorzugung einer von mehreren Aufnahmen zwingen die Fotografen ihrem Gegenstand stets bestimmte Maßstäbe auf. Auch wenn es in gewisser Hinsicht zutrifft, dass die Kamera die Realität einfängt und nicht nur interpretiert, sind Fotos doch genauso eine Interpretation der Welt wie Gemälde und Zeichnungen. Dass es genug Beispiele für relativ unkritisches, wahlloses oder unambitioniertes Fotografieren gibt, macht das Didaktische des ganzen Unternehmens nicht geringer. Gerade die Passivität – und Allgegenwart – der fotografischen Aufzeichnung ist die `Botschaft´ der Fotografie, gerade darin liegt ihre Aggressivität.
Bilder, die idealisieren (wie ein Großteil der Mode- und Tierfotos), sind nicht weniger aggressiv als solche, die aus der Anspruchslosigkeit eine Tugend machen (die Klassenbilder, sämtliche Stillleben und Verbrecherfotos). Jedem Zucken der Kamera wohnt Aggressivität inne. (...)“ (S. 12, 20. Aufl. Fischer 2011).
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